Sehr geehrte Damen und Herren,

 

 

im Namen des Schauspielhauses Zürich und des Ensembles von Meng Jinghui möchte ich Sie ganz herzlich begrüßen! Ich freue mich, dass ich nach der Aufführung im Thalia Theater im Frühjahr auch hier in Zürich mit dabei sein darf und danke dem Schauspielhaus herzlich für die Einladung!

 

 

Mein Name ist Stefan Christ, ich habe Sinologie in Berlin, Hamburg, Peking und Nanjing studiert und mache gerade meinen Masterabschluss an der Universität Hamburg. In der chinesischen Theaterwelt treibe ich mich bereits seit etwa fünf Jahren um und habe seitdem zehn chinesische Stücke komplett ins Deutsche übertragen. Wenn Sie mir etwas Eigenwerbung gestatten, drei Übersetzungen finden Sie im Buch „Mittendrin: Neue Theaterstücke aus China“, das im deutschen Verlag Theater der Zeit erschienen ist, darunter übrigens die ursprüngliche Version von „Bernstein“, das Stück, das wir heute Abend sehen werden. Auch die Übertitelung liegt heute in meiner Hand, schon allein deshalb bin ich bestens damit vertraut. 

 

 

Ich müsste aber gar nicht so sehr mit meiner Kompetenz angeben, denn im Grunde bräuchten Sie diese Einführung überhaupt nicht! Es gibt Stücke im modernen chinesischen Theater, die in weiterer Vergangenheit angesiedelt und ohne eine Erklärung der historischen Hintergründe und Figuren für ein europäisches Publikum schwer verständlich sind.

 

 

Anders verhält es sich mit „Bernstein“. Gleich in der ersten Szene wird ausgesprochen, in welcher Welt es spielt: nämlich Aldous Huxleys „brave new world“, also der „schönen neuen Welt“ der Konsumgesellschaft, in der jedes Bedürfnis – sei es körperlich oder materiell – fast augenblicklich befriedigt werden kann und in der sich damit jedes kritische Hinterfragen erübrigt hat. Was bei Huxley noch als Dystopie gedacht war, wird hier als Gegenwartsdiagnose für die Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert. Und ich verwende „Gesellschaften“ bewusst im Plural, denn wenn die Schauspieler nicht Chinesisch sprächen, gäbe es vielleicht wenig Anlass die gewählten Beschreibungen nicht auch als gültig für unsere Gesellschaft anzuerkennen. Wenn Gesellschaft im Singular, dann müsste man vielleicht von einer „globalisierten“ Gesellschaft sprechen, zu der unsere genauso gehört wie die Welt moderner chinesischer Großstädte, in der ein großer Teil der jungen Chinesen heutzutage aufwächst – übrigens genau das Publikum, für das der Regisseur Meng Jinghui Theater macht. In dieser globalisierten Welt kann ein chinesisches Stück problemlos auf Schriftsteller aus der ganzen Welt verweisen, die mit dem global anerkannten Literaturnobelpreis bedacht wurden. Es kann sich in seiner Gesellschaftskritik und speziell der Kritik an einer Gesellschaft der „Mittelmäßigkeit“ auf Nietzsche berufen. Wenn eine junge Skandalautorin mit einem schmutzigen Erotikroman auftritt, gibt es zwar chinesische Vorbilder, für uns liegt aber die Assoziation mit Charlotte Roches „Feuchtgebieten“ oder Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ nicht allzu fern. Und „Bernstein“ kann seinen Titel aus einem Gedicht eines südamerikanischen Dichters wählen, der die Liebe auf eine Weise besingt, die heute ebenfalls universell verstanden wird. Überhaupt die Liebe, sie macht neben einem kritischen Blick auf die heutige Gesellschaft den zweiten Strang des Stücks aus, und auf sie werde ich zurückkommen müssen.

 

 

In jedem Fall lässt sich sagen, dass bei allen Unterschieden politischer, kultureller oder sozialer Natur, die zwischen der Schweiz und China bestehen mögen, „Bernstein“ kaum sprachliche (wenn man sich vorstellte, dass das Stück statt auf Chinesisch auf Deutsch aufgeführt würde) oder inhaltliche Referenzen präsentiert, die Sie, liebes Publikum, vor Rätsel stellen würde. In diesem Sinne werden Sie heute Abend zwar ein chinesisches Theaterstück sehen, aber keines das uns erlauben würde, China als das ferne, exotische „Andere“ zu verstehen, als einen Geburtsort „orientalischer Weisheit“, die uns vom „Unbehagen in unserer Kultur“ erlösen könnte. Vielmehr wird heute deutlich werden, wie nah uns China ist, zumindest in einigen entscheidenden Hinsichten. Persönlich halte ich das für einen großen Gewinn.

 

Das heißt allerdings nicht, dass dieses Stück und allgemein das Theater von Regisseur Meng Jinghui nicht auch in einem und für einen spezifischen Kontext entstanden ist.

 

 

Meng Jinghui wurde 1965 in Changchun geboren und studierte dort in den 80er Jahren an der Zentralen Theaterakademie (Zhongyang xiju xueyuan) Theater und Regie, in einer Klasse mit seiner heutigen Frau Liao Yimei, die „Bernstein“ und viele andere bekannte Stücke und Drehbücher schrieb. Sein Studium schloss er 1991 mit einer Arbeit über den russischen Regisseur und Schauspieler Meyerhold und einer eigenwilligen Inszenierung von „Warten auf Godot“  ab. Viele seiner frühen Stücke waren Adaptionen westlicher Stoffe, die Meng „avantgardistisch“ inszenierte, indem er sie mit Versatzstücken der chinesischen Tradition und eigenen Ideen kombinierte und multimediale Elemente wie Musik und Video einsetzte. Insbesondere gefiel er sich darin, Plotstrukturen zu unterlaufen und einzelne Szenen ohne erkennbaren Zusammenhang fast schon dadaistisch nebeneinander zu stellen. Dazu kamen der Einsatz von Slang und ein ironisch-subversiver Witz, der sich vor allem in Wortspielen äußerte. Meng war dabei nicht nur Regisseur, sondern an fast allen kreativen Schritten in der Entstehung der Stücke selbst beteiligt, vom Schreiben des Stücks bis zur Auswahl von Kostümen oder Lichteffekten.

 

 

Ende der 90er Jahre, mit der Inszenierung des Stücks Rhinoceros in love (Lian’ai de xiniu), das seine Frau Liao Yimei geschrieben hatte, lässt sich eine deutliche Veränderung in seinem Stil feststellen. Häufig gewählte Beschreibungen bezeichnen seine Arbeiten seitdem als schicker, zugänglicher und professioneller; kritischere Stimmen auch als kommerzieller und oberflächlicher. Das Stück des heutigen Abends, „Bernstein“ (Hupo), kann als Nachfolger zu Rhinoceros in love gesehen werden, denn es ist der zweite Teil einer Trilogie von seiner Frau Liao Yimei. Alle drei Stücke wurden von Meng inszeniert und alle drei waren in China ein – für Theaterverhältnisse – gigantischer Publikumserfolg, insbesondere bei jungen, gut gebildeten Großstädtern. Rhinoceros in Love wurde 1999 uraufgeführt, Bernstein 2005; beide Stücke wurden seitdem mehrere hunderte Male gezeigt und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Hunderttausende junger Chinesen sie im Theater gesehen haben, und noch mehr auf DVD und im Internet. Einzelne Zeilen sind in den Jugendwortschatz eingegangen und werden im chinesischsprachigen Internet häufig verwendet. Das Thalia Theater hat in seinem Programmheft nicht übertrieben, als es schrieb, dass Meng in seiner Heimat ein Star sei.

 

 

Warum wird sein Theater aber immer wieder als „avantgardistisch“ oder „experimentell“ beschrieben? Wie passt das zu den Kritiken, dass er in den letzten Jahren zunehmend „kommerzieller“ geworden sei?

 

Nun darf ich doch einen kleinen Ausflug in die Geschichte unternehmen. Mit dem Ende der sog. „Kulturrevolution“ und dem Tod Maos 1976 endete eine Phase, in der die Kunst in China ausschließlich im Dienst von Partei und Staat stand und im Theater stilistisch auf sozialistischen Realismus und Naturalismus festgelegt war. Theaterschaffende schufen sich Freiräume, indem sie mit neuen Formen experimentierten und sich auch inhaltlich von den stark ideologisch geprägten Werken der vergangenen Jahrzehnte lösten. Es galt die Kunst und das Leben wieder näher zueinander zu bringen, um dem Theater eine sinnvolle – nämlich eine kritische, eine transformative – Aufgabe in der Gesellschaft zu geben. Dies war eine erste Hochphase des „avantgardistischen“ oder „experimentellen“ Theaters.

 

 

Wegweisende Stücke dieser Zeit entstanden dabei unter anderem aus der Zusammenarbeit von Schriftsteller Gao Xingjian und Regisseur Lin Zhaohua. Beide Namen sind Ihnen möglicherweise ein Begriff: Gao Xingjian erhielt im Jahr 2000 den Nobelpreis für Literatur. Regisseur Lin Zhaohua war schon häufig in Europa zu Gast, in der Schweiz u.a. 1980 mit seiner Inszenierung des Stücks „Das Teehaus“. Die Stücke der beiden, die damals am meisten Furore machten waren „Die Haltestelle“ (Chezhan, 1983) und „Yeti, der wilde Mann“ (Yeren, 1985). Was in China als experimentell galt, ließ das europäische Publikum jedoch ziemlich kalt. Als Lin Zhaohua 1988 „Yeti, der wilde Mann“ mit deutschen Schauspielern am Thalia Theater in Hamburg inszenierte (übrigens mit Peter Danzeisen, dem ehemaligen Direktor der Schauspielakademie Zürich), titelte die Frankfurter Rundschau: „China war uns (verdächtig) nahe gekommen - und bleibt doch sehr fern" (31.10.1988).

 

 

Zugleich brauten sich im Laufe der 80er Jahre aber Tendenzen zusammen, die zum Ende dieser Dekade und die ganze folgende hindurch zu einer „Theaterkrise“ (xiju weiji) führen sollten. Die ökonomischen Reformen und die Öffnung des Landes hatten zahlreiche neue Unterhaltungsformen nach China gebracht, gegen die sich das Theater nun behaupten musste. Zugleich wurden staatliche Subventionen gestrichen, was den Handlungsspielraum der Theaterschaffenden weiter einschränkte. Nachdem man gerade erst wieder an sozialer Bedeutung gewonnen hatte, schien das Projekt der chinesischen Theateravantgarde schon wieder am Ende. Meng Jinghui und andere in der jüngeren Generation der Theaterschaffenden jener Zeit reagierten darauf mit einer, wenn man so will, Radikalisierung. Sie gründeten die ersten von staatlichen Akademien und Theater unabhängigen Theaterensembles, die sich bewusst an den Rand der Gesellschaft stellten und bereit waren, noch radikaler mit der Vergangenheit zu brechen und noch radikaler zu experimentieren, ohne jede Rücksicht auf das Publikum.

 

 

Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tian’an men-Platz 1989 und dem folgenden politischen und gesellschaftlichen Stillstand, setzten sich diese Tendenzen nach 1992 in verstärktem Maße fort. Die zunehmende Ökonomisierung des Kulturbereichs und die „schöne neue Welt“ der Konsumgesellschaft erlaubten zwar die Gründung unabhängiger Ensembles, setzten sie aber auch starkem wirtschaftlichem Druck aus. Einige suchten Erfolg darin, den Anforderungen des Marktes gerecht zu werden. Meng Jinghui und andere gefielen sich weiterhin in der Rolle rebellischer Außenseiter, die nichts auf den Mainstream gaben. Letztlich war jedoch keiner dieser Versuche sonderlich erfolgreich: Wer gegen Ende der Dekade noch nicht aufgegeben hatte, war von ökonomischen Schwierigkeiten geplagt, und das Theater steckte weiter in einer Krise zunehmenden Bedeutungsverlustes. Wie sollte es eine kritische oder transformative Funktion für die Gesellschaft erfüllen, wenn es überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurde? Wer das Theater als relevante Kunstform bewahren wollte, musste einen Weg von den Rändern zurück in die Mitte der Gesellschaft finden, ohne seine Seele an den Kommerz zu verkaufen. Wenn man es so positiv sehen will, und ich habe bereits angemerkt, dass einige Kritiker hier anderer Meinung sind, war es genau das, was Meng Jinghui tat.

 

 

Er löste sich von seiner rebellischen Außenseiterrolle, indem er avantgardistische Elemente mit Pop- und Mainstreamkultur mischte und damit einen ganz neuen Stil entwickelte, der heute als „Meng-Stil“ in China vielfach imitiert wird. Damit gelangen ihm die eingangs erwähnten großen Erfolge, zu denen das heute zu sehende Stück gehört. Statt Konfrontation setzte er nun auf Interaktion mit seinem Publikum, übrigens auch häufig im direkten Kontakt nach Aufführungen. In einer Szene des gleich zu sehenden Stücks heißt es: „Am rebellischen Geist der Jugend festhalten und sich dem Fortlauf der Zeit verweigern? Oder entschieden zu etwas werden, das man früher verabscheut hätte? Was beweist mehr Größe? Was davon ist besser für Herz und Seele?“ Die darauf folgende Anekdote ließe sich vielleicht so zusammenfassen, dass man einem verrückt gewordenen Publikum nur noch beikommen kann, indem man sich auf es einlässt und es aus seiner Welt heraus anspricht, so absurd sie auch sein mag.

 

 

Interaktion statt Konfrontation gilt auch für seine Haltung zum institutionalisierten staatlichen Kunstbetrieb, denn ohne dessen zumindest stillschweigendes Einverständnis wären ihm viele Wege versperrt geblieben. Umgekehrt schmückt sich die Kulturbürokratie natürlich auch gerne mit einem erfolgreichen Theaterstar. Aber Meng bewahrt sich auch ein großes Stück Autonomie, indem er neben seiner eigenen Kompanie, dem „Meng Jinghui Theatre Studio“ (Meng Jinghui xiju gongzuoshi), auch ein eigenes kleines Theater betreibt, das „Bienenstock-Theater“ (Fengchao juchang) in Peking. Kritikerinnen wie Claire Conceison bescheinigen Meng, dass er trotz seiner guten Verbindungen zum staatlichen Kunstbetrieb, unabhängig und kritisch sei. Er arbeite zwar im und mit dem System, teste aber mit spielerischem Humor auch immer wieder dessen Grenzen. Wenn Sie sich an die vielen satirischen Verarbeitungen wichtiger politischer Ereignisse der jüngeren chinesischen Geschichte im Stück „Leben“ erinnern, werden Sie geneigt sein, ihr zuzustimmen. Auch in „Bernstein“ finden sich Verballhornungen offizieller Propaganda. Der Slogan „Revolution ist kein Verbrechen, Rebellion ist legitim“ (geming wu zui, zaofan you li), der aus den 1960er Jahren, also der Zeit der sog. „Kulturrevolution“ stammt, wird umgedichtet zu „Erotik ist kein Verbrechen, Sex ist legitim“ (xinggan wu zui, zuo ai you li). Die beliebte Formel von der „chinesischen Prägung“ (Zhongguo tese), die im offiziellen Diskurs vor allem in der Beschreibung des herrschenden Systems als „Sozialismus chinesischer Prägung“ auftritt, wird von einem zwielichtigen Verkäufer eingesetzt, um seine Waren anzupreisen.

 

 

Dieser zwielichtige Verkäufer gehört zu der Gruppe von halbseidenen Gestalten, die unter der Führung des skrupellosen Frauenhelden Gao Yuan einen erotischen Roman zusammenzuschustern, der als das Werk einer jungen Skandalautorin ausgegeben wird und sich blendend verkauft. Das ist nicht nur eine Persiflage auf den modernen Literaturbetrieb, die sich, wie gesagt, wohl auch problemlos auf die Verhältnisse hierzulande übertragen ließe. Nebenbei wird uns auch noch ein ganzes Kaleidoskop von Figuren präsentiert, wie sie die schöne neue Welt in China hervorgebracht hat.

 

Da wäre die vermeintliche Skandalautorin Yao Yaoyao, deren Name sich im Chinesischen fast genauso anhört wie „ich will, ich will, ich will“. Sie will vor allem Ruhm und ist bereit, dafür fast jeden Preis zu zahlen. Das Dschungelcamp lässt grüßen.

 

 

Wir treffen einen Jugendlichen, dessen angestaute Frustration sich in Wut entlädt und der damit zum „zornigen Jugendlichen“ wird, im Chinesischen fenqing genannt. Chinesische Sozialwissenschaftler nutzen diesen Ausdruck gerne für Jugendliche, die ihre Frustration und ihren Zorn in patriotischen Ausfällen gegen die USA oder Japan im Internet auslassen. Aber auch ein Meng Jinghui wurde ob seiner provokanten Inszenierungen früher als fenqing beschrieben und so erstaunt es nicht, dass die so betitelte Figur in „Bernstein“ zwar durch derbe Ausdrucksweise und Liebe zu harter Rockmusik auffällt, dabei aber trotzdem nicht unsympathisch wirkt.

 

 

Es gibt einen Akademiker, der seine vorgebliche Bildung mit umständlichen Formulierungen und schiefen Anspielungen der Lächerlichkeit preisgibt. So zitiert er einmal ein vorgeblich klassisches Gedicht, das in Wirklichkeit aus einem Kongfu-Film der 90er Jahre stammt. Ein andermal bezieht er sich auf den aufgrund seiner pornographischen Passagen berühmt-berüchtigten Roman „Jin Ping Mei“ – „Pflaumenblüte in goldener Vase“ – aus dem 17. Jahrhundert.

 

 

Ein „stinkender Flickschuster“ erinnert uns an die Millionen Wanderarbeiter, die heute die modernen Städte bevölkern, dabei aber meistens unsichtbar bleiben. Derbe, ungebildet, aber mit einem gewissen Sinn für Pragmatik ausgestattet, sind sie als Individuen unglaublich zäh und trickreich, aber zählen dennoch häufig zu den Verlierern der gesellschaftlichen Verhältnisse. 

 

Ein Arzt verkörpert die kalte, wissenschaftliche Rationalität der modernen Gesellschaft, die weder das anarchische Verhalten eines komplexen Charakters wie den des Hauptprotagonisten Gao Yuan, noch die irrationale Liebe der Hauptprotagonistin Shen Xiaoyou billigen kann.

 

 

Die Liebe, zu ihr möchte ich noch ein paar Worte verlieren, bevor ich zum Ende komme. Sie bildet den zweiten Hauptstrang des Stücks und auf sie müssen wir wohl unsere Hoffnungen setzen, wenn wir einen positiven Ausgang aus der „schönen neuen Welt“ suchen wollen. Sie werden kein Problem haben, die Liebe zu begreifen, wie sie uns in „Bernstein“ präsentiert wird: Es ist eine romantische Liebe, ein starkes Gefühl, das zwei Individuen aneinander bindet und eine transformative Kraft entwickelt, die die Menschen zum Besseren verändern kann. Es ist, kurz gesagt, ein Konzept von Liebe, wie es auch bei uns gängig ist, archetypisch verkörpert in zahlreichen Hollywood-Filmen.

 

 

Auffällig sind jedoch die übertriebene Emotionalität und die daraus resultierende Exzentrik der Charaktere in „Bernstein“. Die Liebe kippt hier fast schon ins Pathologische, und tatsächlich spielen Verrücktheit, Krankheit und Gefangensein eine unübersehbare Rolle, übrigens auch in anderen von Mengs Stücken. Sie sind wohl die Kehrseite der absoluten Konsumfreiheit in der „schönen neuen Welt“, mögen sich in Bezug auf die Liebe aber auch ergeben aus dem krassen Widerspruch zwischen dem beschriebenen „Hollywood“-Konzept und einer sozialen Realität, in der der Heiratsmarkt in China immer noch von sehr viel pragmatischeren Erwägungen bestimmt bleibt. Dennoch bietet die Liebe einen Raum, in dem Individualität bis ins Extreme ausgelebt werden kann und eine Sphäre der Innerlichkeit, die vermeintlich frei von den Anforderungen von Politik und Gesellschaft ist. Eine solche „Flucht ins Private“ wird deshalb manchmal als politisch subversiv interpretiert, aber sie stellt die Welt und ihre Ordnung nicht grundsätzlich in Frage und vermag damit sogar die bestehende Ordnung, die womöglich größere Freiheit verhindert, zu stabilisieren. Ist die Liebe also nur der Sargnagel der Rebellion gegen die Falschheit der Welt – oder der letzte Nagel, an den wir unsere Hoffnung noch hängen können?

 

Zürich, 18. und 19. November 2015