Das Stück Bernstein steckt voller Zitate, Anspielungen und Referenzen. Im Folgenden sollen einige Beispiele genannt und näher beschrieben werden.

Gleich in der ersten Szene des Stücks fällt beiläufig der Ausdruck „schöne neue Welt“ (美丽的新世界), der auf den dystopischen Roman „Brave New World“ von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932 verweist, und damit den Grundton für den Blick des Stücks auf die Gesellschaft vorgibt. Sie lebt in der schönen, neuen Konsumwelt, wird von ihren primitivsten Trieben beherrscht, und hat jede Fähigkeit zu kritischem Denken und Hinterfragen verloren. Dies wird unter anderem an der Figur des vorgeblich Gebildeten verdeutlicht, der eine scheinbar klassische Referenz doch nur einem Martial Arts-Film der 90er Jahre entnimmt (siehe dazu auch den Beitrag von Frederick Stein).

 

Die Leichtgläubigkeit der Masse wird wiederholt und direkt im Stück thematisiert, die Autorin spielt mit ihr offenbar aber auch noch auf einer zweiten Ebene. So finden sich, wie im Beispiel des gerade genannten scheinbar klassischen Gedichts, mehrere „leere“ Verweise oder absichtliche Falschverweise, die bei näherem Hinsehen enthüllen könnten, das sich auch die Zuschauer womöglich leichter als gedacht hinters Licht führen lassen. In einer Szene wird ein „Elbert Johnson“ als Gewinner des amerikanischen National Book Award 1986 genannt. In Wahrheit gewann 1986 jedoch Edgar Lawrence Doctorow den Award, und ein Autor namens „Elbert Johnson“ findet sich für kein Jahr auf der Gewinnerliste dieses Preises, und auch sonst nicht. Das ist umso auffälliger, als zur Verteidigung des Schundromans, den die Gruppe um Gao Yuan verfasst hatte, die großen Namen  Solschenizyn, Thomas Mann, Camus, Tolstoy, Beckett und Kawabata Yasunari angeführt werden – alle bekamen den Literaturnobelpreis zuerkannt.

 

In einer anderen Szene antwortet die Hauptprotagonistin Xiaoyou ihrem männlichen Gegenpart auf dessen Rezitieren eines Neruda-Gedichts folgendermaßen: „Auf der Welt gibt es nur zwei Arten von Menschen: solche, die man liebt, und solche, die man hasst. Angesichts deines Blicks für Schönheit sei dir die Unanständigkeit verziehen.“ (“世界上的人只有两种:一种人可爱,一种人讨厌。鉴于你审美的品位那么高,作风不正派也就算情有可原了。”) Dann behauptet sie, auch dies sei ein Zitat (im Text des Stücks auch formal als solches mit Anführungszeichen gekennzeichnet). Woher es stammen soll, bleibt jedoch offen und trotz ausgiebiger Suche konnten wir die Herkunft nicht feststellen. Das heißt, wenn es überhaupt eine solche gibt, denn zumindest der erste Teil – „es gibt zwei Arten von Menschen“ – leitet eine Vielzahl von Sprüchen mit unterschiedlichsten Inhalten ein. Auch hier möglicherweise einerseits eine ironische Antwort auf das Süßholzgeraspel des Gao Yuan und andererseits eine bewusste Irreführung des Zuschauers bzw. Lesers.

 

Direkt und eindeutig wird natürlich auch zitiert, unter anderem aus den Liebessonetten von Pablo Neruda, Nr. XXX und LXXXI, wobei letzteres sogar titelgebend für das ganze Stück ist. Die betreffenden Verse lauten im spanischsprachigen Original: „Gira la noche sobre sus invisibles ruedas / y junto a mí eres pura como el ámbar dormido“ – „Die Nacht dreht sich in unsichtbaren Rädern / und du bist an meiner Seite rein wie schlafender Bernstein“ (黑夜转动它那看不见的轮子你在我身边纯洁如一只入睡的琥珀). Auch ein Zitat – passend zur Verführbarkeit der Massen – von Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse) findet sich: Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“ (疯狂就个人而言是少见的,但就集团,组织,民众和时代而言,却屡见不鲜。). Sogar Shakespeares „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ findet seine Verwendung an passender Stelle. Ein sehr langes Zitat ist die Geschichte um die zwei Gelehrten und ihre Chrysanthemen-Zusammenkunft, die Xiaoyou Gao Yuan erzählt. Diese ist dem Werk des Feng Menglong 馮夢龍 (1574-1646) entnommen, ein Literat der späten Ming-Dynastie. An einer späteren Stelle im Stück, in der wieder Xiaoyou Gao Yuans Herz mit einer Geschichte erweichen möchte, greift sie zurück auf die altgriechische Sage um Orpheus und Eurydike.

 

Auffällig ist hier, dass fast alle bisher genannten Beispiele aus dem nicht-chinesischen Kulturraum kommen oder auch ohne tiefere Kenntnisse der chinesischen Sprache und Kultur problemlos zu verstehen sind. Anders verhält es sich bei den folgenden zwei Beispielen. In der Szene des Stücks, in der die vermeintliche junge Skandalautorin von Reportern interviewt wird, verteidigt sie sich an einer Stelle mit dem Satz „Erotik ist kein Verbrechen, Sex ist legitim“ (性感无罪,做爱有理). Diese Formulierung ist eine ironische Abwandlung eines Slogans aus der sogenannten „Kulturrevolution“ im China der 1960er Jahre: „Revolution ist kein Verbrechen, Rebellion ist legitim“  (革命无罪,造反有理). In einer früheren Szene, als man noch auf der Suche nach einer geeigneten Frau für die Rolle der Skandalautorin ist, schlägt eine Figur vor: „Wie wäre es mit meiner Freundin, in meiner Heimat gilt sie als Schönheit, als Bohnenquark-Aphrodite […]“ (把我女朋友找来,她是我老家有名的豆腐西施). Im chinesischen Original steht hier statt „Bohnenquark-Aphrodite“ eigentlich „Tofu Xi Shi“. Xi Shi ist eine legendäre Schönheit des chinesischen Altertums, die mit ihren Reizen einen ganzen Staat und seinen Herrscher, der ihr verfallen war, in den Untergang gestürzt haben soll. Eine solche „femme fatale“ mit Tofu zu kombinieren schafft unterschiedliche Konnotationen: Der Abstand zwischen profanem Tofu und einer legendären Gestalt lassen die so betitelte Frau eher als Flittchen erscheinen, deren Schönheit zudem nur in begrenzten Sphären (etwa dem Heimatdorf) als außergewöhnlich gelten mag. Der Ausdruck „Bohnenquark-Aphrodite“ ist übrigens der deutschen Übersetzung (Findeisen, Kubin und Reisinger) von Lu Xuns Erzählung „Heimat“ entnommen, der den  Begriff „Tofu Xi Shi“ wohl  in die moderne Literatur eingeführt hat.


Da Meng Jinghui an seinen Inszenierungen teilweise auch sehr kurzfristig Änderungen vornimmt, wurden möglicherweise nicht alle der genannten Zitate, Anspielungen und Referenzen in den zwei Aufführungen im Thalia Theater in Hamburg verwendet. 


Stefan Christ